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Diskussionsrunde mit Europa-Parlamentarier Ismail Ertug: „Nach der Wahl kommt das Tempolimit“

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Diskussionsrunde mit Europa-Parlamentarier Ismail Ertug: „Nach der Wahl kommt das Tempolimit“

Politik – zu abstrakt, zu weit weg? Nicht, wenn man ihr „ein Gesicht geben kann“, wie es sich Schulleiter Josef Weilhammer für die neue Veranstaltungsreihe an der Berufsschule vorgenommen hat. Und der erste Gast Mitte Juli 2021 an der Fachakademie, Ismail Ertug, seines Zeichens SPD-Politiker aus Amberg und Europaabgeordneter für die Bezirke Oberpfalz und Niederbayern, wurde dem Konzept dank seiner erfrischend geradlinigen, fesselnden Dialogführung voll gerecht. Nach 90 Minuten Zeitgeschehen live fasste ein Studierender der FAE 2 seine Eindrücke begeistert zusammen: „Die Zeit ist viel zu schnell vergangen!“

Den Auftakt machte eine Videobotschaft des stellvertretenden Hauptgeschäftsführers der Vereinigung der Bayerischen Wirtschaft (vbw), Dr. Christof Prechtl. „Bildung ist mehr als fachliche Bildung“ würdigte er die Weidener Aktion und lobte den Fokus des Beruflichen Schulzentrums auf Wertebildung und Demokratieerziehung sowie die Pflege von echter Diskussionskultur im Rahmen des Projekts „Werte.BS“.

Dann übernahm Ertug die Regie und outete sich gleich zu Beginn als „Gerechtigkeitsfanatiker und emotionaler Mensch“ – er sei Politiker, kein Diplomat, seine Wahrheit gelte nicht absolut und auch er koche, wie all seine Kollegen, nur mit Wasser. „Keine Weichspülfragen“ wünschte er sich von seinem Publikum; er forderte die jungen Leute zu mehr zivilem Ungehorsam auf, sie sollten gegen den Strom schwimmen, Meinungen nicht ungeprüft übernehmen und vor allem möglichst viele Medien aus verschiedenen Ländern kritisch konsumieren. „Hüten Sie sich vor einfachen Lösungen. Die Welt ist nicht schwarz-weiß. Werden Sie zum mündigen Bürger, denn den fürchten die Populisten am meisten.“

Warum Demokratie verteidigen? „Weil man in den Ländern der EU – trotz berechtigter Kritik an den Einschränkungen von Freiheit und Grundrechten wegen der Corona-Krise – im Vergleich mit anderen Regionen frei und selbstbestimmt leben kann.“ Als Gegenbeispiel nannte Ertug China, eines seiner Betätigungsfelder im EU-Parlament, wo man die Krise zwar rasch, aber nur aufgrund von totaler staatlicher Kontrolle gemeistert habe: „Dort haben Sie Videoüberwachung an jeder Straßenecke.“

Als erfolgreiches, wohlhabendes Land solle Deutschland andere nicht von oben herab behandeln, sondern komplexe Perspektiven stärker wahrnehmen, forderte Ertug. Dabei, räumte er ein, sei es oft schwierig, wirtschaftliche Interessen mit politisch brisanten Themen in Einklang zu bringen und glaubwürdig zu bleiben. Als Beispiel nannte er die Gas-Pipeline Nord Stream 2, deren Fertigstellung die USA nicht zuletzt deshalb verhindern wollten, um ihr eigenes Fracking-Gas nach Europa zu verkaufen. Ebenso verwies er auf die hausgemachte Abhängigkeit der EU-Länder von Waren aus China. Hier solle man davon absehen, die Machthaber aufgrund ihres Umgangs mit den Menschenrechten öffentlich zu brüskieren; es sei klüger, das Thema klar und deutlich hinter den Kulissen ansprechen, um die Gesprächsbasis zu erhalten.

Es folgte ein lebhafter Dialog mit dem Publikum, in dem Ertug seinen Zuhörern „intelligente Fragestellungen“ attestierte. Themen waren unter anderem die Digitalisierung („Hier ist Deutschland im Mittelfeld bis schlecht“) sowie Mobilität und Klimawandel in Verbindung mit wirtschaftlichen Interessen. Es sei sehr schwer, auf Privilegien zu verzichten, sagte Ertug in Hinblick auf den westlichen Lebensstil; den jetzigen Standard werde man kaum halten können. „Ich fahre selbst gern schnell, aber mit 180 über die Autobahn geht wohl bald nicht mehr.“ Ein Viertel der CO2-Belastung stamme von der Mobilität, davon allein 70 Prozent vom Straßenverkehr. Derzeit bilde sich in Deutschland eine Mehrheit für ein Tempolimit auf Autobahnen. „Politiker schielen nach der Meinung der Bevölkerung“, so Ertug. „Sie werden sehen, nach der Wahl im September kommt Tempo 130.“

Passgenau zu den Interessen der zukünftigen Übersetzer und Dolmetscher kam die Frage nach Ertugs Herkunft: „Ich habe als Kind zwei Sprachen als Geschenk bekommen – Türkisch und Deutsch“, so der Politiker. Getreu dem türkischen Sprichwort „Eine Sprache entspricht einem Menschen“ sei es jede Sprache wert, gelernt zu werden, denn sie öffne Türen zu anderen Nationen, die nur mit dem kleinsten gemeinsamen Nenner Englisch verschlossen blieben. Überhaupt gingen bei Übersetzungen viele Nuancen verloren, die in der politischen Arbeit nicht selten zu Missverständnissen führten. „Bildung ist wichtig!“, betonte Ertug und appellierte an seine Zuhörer, ihre Chancen wahrzunehmen.

Die intensive Diskussion setzte sich nach dem offiziellen Ende noch im kleinen Kreis fort. Josef Weilhammer überreichte dem Gast ein kleines Präsent und äußerte den Wunsch auf ein möglichst baldiges Wiedersehen am Beruflichen Schulzentrum Weiden.

Andrea Hielscher