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Tschechien als Rettungsanker in Corona-Not

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Tschechien als Rettungsanker in Corona-Not

Rainer Wilka berichtet von seinem Freiwilligenjahr in Pilsen

Anfang September verlegte Rainer Wilka, Studierender der Fachakademie, seinen Wohnort rund 100 km nach Osten und trat in Pilsen ein sehr erfolgreiches Freiwilligenjahr bei Tandem an, dem Koordinierungszentrum Deutsch-Tschechischer Jugendaustausch. Hier ist sein Bericht.

Da ein Teil meiner Familie aus Böhmen stammt und ich eine starke Verbundenheit zu diesem Landstrich spüre, hatte ich mich schon vorher mit der tschechischen Sprache beschäftigt. Doch erst durch den intensiven Unterricht an der Fachakademie konnte ich mich überall im Nachbarland „unfallfrei“ verständigen. Das allerdings erst zum Beispiel dank des mühsamen Auswendiglernens von Zungenbrechern mit allerhand fremden Zischlauten oder weil ich die Wand in meinem Arbeitszimmer voll mit Grammatik-Tabellen pflasterte, um beim Lernen nicht völlig den Überblick zu verlieren …

Doch das hat sich längst bezahlt gemacht. Denn es ist einfach fantastisch, wie leicht man als interessierter Fremder in Tschechien aufgenommen wird und mit der Sprache auch feine Unterschiede in der Mentalität verstehen kann. Allein die feierlichen Begrüßungs- und Abschiedszeremonien bei der Sommerschule für ausländische Studenten an der Prager Karls-Universität empfand ich als so hochkarätig und so liebevoll organisiert, dass sie für mich immer unvergessliche Höhepunkte bleiben werden.

Rainer Wilka bei einem Ausflug am Fluss Berounka
Rainer Wilka bei einem Ausflug am Fluss Berounka

Bewerbung als Antwort auf Corona

Gegen Ende des letzten Schuljahres, als ich verzweifelt versuchte, mich aus meinem persönlichen Corona-Loch freizukämpfen, wurde ich auf eine Anzeige der Organisation Tandem aufmerksam: Tandem unterstützt und fördert den deutsch-tschechischen Austausch für Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene und ermöglicht zum Beispiel Berufspraktika und spielerisches Tschechischlernen durch Sprachanimationen. Organisiert wird diese Arbeit von den Büros in Regensburg und Pilsen, wo außer den regulären Mitarbeitern auch europäische Freiwillige im Einsatz sind.

So erfuhr ich, dass eine Freiwilligenstelle in Pilsen neu besetzt werden sollte. Das war vielleicht das Signal, auf das ich gewartet hatte. Nach einiger Bedenkzeit gefiel mir der Gedanke immer besser, mich darauf einzulassen und, um es mit Karel Gott zu sagen, „in einem unbekannten Land“ neu durchzustarten. Denn ich bin der Meinung, dass man ein Land erst dann wirklich begreifen kann, wenn man mehr als nur gelegentliche Abstecher dorthin unternommen hat. Nach dem Bewerbungsverfahren mit einem Vorstellungsgespräch per Videokonferenz bekam ich tatsächlich die erhoffte Zusage, und so begann am 1. September meine Tätigkeit als Freiwilliger.

Gegen Grenzen im Kopf vorgehen

Meine Hauptaufgabe war es, das Projekt „ahoj.info“ zu betreuen. Dieses Info-Portal spricht vor allem Jugendliche, aber im Prinzip alle im deutschsprachigen Raum und in Tschechien an, die sich für grenzübergreifende Nachrichten und Aktionen interessieren. Neben Internet-Beiträgen wie zum Beispiel einem Blog, Interviews und Videos werden im Rahmen des Projekts auch internationale Begegnungen in Form von Seminaren und Diskussionsrunden organisiert – mit dem Ziel, die noch vorhandenen Grenzen im Kopf abzubauen und den Horizont des Zielpublikums zu erweitern. Gleich zu Beginn des Dienstes stand ein Besuch bei den neuen Kollegen in Regensburg auf dem Programm, wo meine zwei tschechischen Mitfreiwilligen aktiv sein würden.

Schon nach dem ersten Monat stellte ich fest, dass die Arbeit riesig Spaß machte, auch wenn einige Aktivitäten in diesem besonderen Jahr abgesagt wurden oder nur online machbar waren. Das lag vor allem an den wunderbaren Kollegen, die sehr darauf achteten, dass mir der Start nicht zu schwer fiel und die mich gern auf Spaziergänge durch die Stadt mitnahmen.

Natürlich brauchte ich eine gewisse Zeit, um mich in meiner neuen Umgebung einzuarbeiten. Obwohl es hier nicht um einen klassischen Bürojob ging, gehörte trotzdem auch so mancher Papierkram und ein bisschen Planen und Organisieren dazu. Weil ich aber selbst diese „Schnupperphase“ ganz spannend fand und alles gut klappte, fiel mir der Übergang zum Tagesgeschäft recht leicht.

Beim Müllsammeln mit anderen Freiwilligen

Corona-Gefängnis Tschechien mit Potenzial

Im Herbst und Winter war Tschechien eines von der Corona-Pandemie am meisten betroffenen Länder Europas. Ähnlich wie in Deutschland wurde die Arbeit zunehmend auf Homeoffice umgestellt. Für sehr lange Zeit waren die meisten Geschäfte geschlossen und in den Supermärkten gab es großen Andrang. Ich war häufig an der frischen Luft und unternahm viele Spaziergänge durch die Stadt, um bei Laune zu bleiben. Der größte Verlust war für mich, dass ich mich fast gar nicht mehr mit meiner Familie treffen konnte. Wir hielten Kontakt über den Bildschirm.

In der Arbeit musste ich mich mehr und mehr auf Videokonferenzen umstellen und daran gewöhnen, dass der Austausch mit den Kollegen nicht mehr wie sonst im Büro möglich war. Ich stellte aber bald fest, dass Zusammenarbeit im Online-Umfeld gut funktionieren kann und dass auf diesem Gebiet viele spannende neue Entwicklungen passieren.

Herausforderung Sprache

Daneben gab es noch weitere Herausforderungen. Im Freiwilligendienst bei Tandem stehen verschiedene Zusatzaktivitäten zur Auswahl. Man kann zum Beispiel Foto- oder Sprachkurse an der Uni besuchen oder die Grundlagen der Sprachanimation lernen, der spielerischen Vermittlung der Fremdsprache. Darüber hinaus gibt es auch die Möglichkeit, in Deutsch Nachhilfeunterricht oder Konversationsstunden zu geben. Ich habe mich gleich für Letzteres entschieden und an der Handelsakademie pro Woche freiwillig eine Stunde deutsche Konversation unterrichtet. Das hat mir wirklich großen Spaß gemacht.

Auch in Tschechisch habe ich mich sehr gesteigert – inzwischen verstehe ich alles und meine Kollegen sind ganz begeistert! Ich muss allerdings sagen, dass ich eine super Lehrerin hatte, die mich individuell betreute und für die Stunden auch mal zu mir ins Büro kam.

Ausnahmsweise ohne Maske beim deutsch-tschechischen Stammtisch im Restaurant Švejk

Fazit: viel Plus und wenig Minus

Insgesamt fühle ich mich in Pilsen einfach sehr gut aufgehoben. Es fiel mir gar nicht schwer, Anschluss zu finden, und ich bin schon einigen alten Bekannten von früheren Besuchen der Stadt begegnet, die mich sofort herzlich begrüßt haben. Ich finde, die Tschechen gehen das Leben insgesamt entspannter an, selbst in schwierigen Zeiten.

Auf der einen Seite habe ich zwar das Gefühl, dass Pilsen immer internationaler wird. In Bezug auf ganz Tschechien ist diese Entwicklung aber noch nicht so weit vorangekommen. Nach wie vor kann man sich nicht immer auf Englisch verständigen, und Deutsch steht als Schulfach leider immer weniger hoch im Kurs. Auch Vorschriften werden hier nicht immer befolgt. Aber das ist in Deutschland nicht anders.

Obwohl Tschechien nur ein kleines Land ist, sollte man es nicht unterschätzen: Schließlich liegt es im Herzen Europas, hat einen besonderen, sehr interessanten Charakter und entwickelt sich sehr gut – als wichtiger Brückenpfeiler zwischen Ost und West.